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Viele Sprachen beneiden uns um dieses wunderbare Wort

#24 Schrift: der unübersetzbare Begriff

Schon bei Goethe steht es: wer schreibt, der bleibt.
Vor der Erfindung des Schreibens lebten die Menschen in einer akustischen Welt, ihren dunklen Gedanken überlassen. Erst die Erfindung des Schreibens befreite die Menschheit aus ihrer Ahnungslosigkeit. Der Gänsekeil machte dem Sprechen ein End.

So formulierte es Marshall McLuhan. Das Geheimnisvolle war abgeschafft; jetzt entstanden Bauten und Städte, Straßen und Armeen, Bürokratie. Die Zivilisation begann, der Schritt aus dem Dunklen der Vorgeschichte in das Licht des Bewusstseins. Die seman­tische Übereinstimmung von Schrift und schreiben ist nicht verwirrend, sondern prak­tisch. Wir schreiben mit Schrift, und was wir schriftlich haben, können wir – wie Mephistos Student – getrost in schwarz auf weiß nach Hause tragen. Ein Schriftstück kann eine Anklageschrift sein, eine Streitschrift oder eine Zeitschrift. Die Druckschrift bezeichnet sowohl das gedruckte Dokument als auch die Schrift, in der es ge­setzt und gedruckt wurde. Der Setzer setzt den Satz mit der Satzschrift auf einer Setzmaschine. Ein Schreiber schreibt Schrift. Wir können auf­schreiben, abschreiben, anschreiben, hinschreiben, fort­schreiben, unter- und überschreiben, zuschreiben, hand­schreiben oder in Druck­buch­staben schreiben, etwas schriftlich festhalten, also verschriftlichen oder in Schrift­form bringen. 

Viele andere Sprachen beneiden uns um dieses wunderbare Wort. Auf englisch gibt es mehrere Bezeichnungen dafür. Druckschrift: typeface oder font oder printing type; Geschriebenes, Schreiben: writing; schreiben: to write; Schriftstück: writ; Schreiber: writer oder scribe.

Der Handel brachte die Mechani­sierung des Schreibens; von den in Tontafeln ge­ritzten Listen gelieferter Gegenstände brauchte es einige Jahrtausende, bis aus den gezeichneten Tieren, Tonkrügen und Weizen­bündeln abstrakte Zeichen wurden. Der Kopf des Rindes mit seinen Hörnern wurde auf der Reise über das Mittelmeer zum Aleph als erster Buchstabe unseres Alphabetes.

Lange blieb der Umgang mit Schrift und die Verbreitung des Wissens wenigen Klassen vorbehalten. Selbst als Gutenberg den Druck von beweglichen und damit wiederverwendbaren Lettern erfand, dauerte es lange, eher nicht nur lateinische Texte gesetzt und gedruckt worden. Gutenberg verdiente sein erstes Geld da­mit, Ablasszettel für den Mainzer Bischof zu drucken, indem er die Handschrift der Mönche nachmachte. Die Kirche hielt das zuerst für Hexerei, denn die gedruckten Zettel waren einander so ähnlich, wie es selbst der geschickteste Schreiber nicht hinbekam. 

Mit der Erfindung der Druckschrift begann die Neuzeit – ohne Gutenberg wären Luthers 99 Thesen eine Notiz an der Kirchentür geblieben, die der Küster in Wittenberg am nächsten Tag verbrannt hätte. Aber verviel­fältigt und in Umlauf gebracht, waren die Forderungen bald beim Papst in Rom angekommen und die alleinige Macht der katholi­schen Kirche gebrochen. Noch heute gilt für Juristen der Spruch Quod non legitur, non creditur: Was nicht gelesen wird, wird nicht geglaubt, beziehungsweise was nicht in den Akten steht, ist auch nicht in der Welt: Quod non est in actis non est in mundo. Das galt schon, als noch kaum ein Mensch lesen konnte. Als so gefährlich sahen die Herrschenden die Verbreitung von Wissen an, dass lange jede Druck­sache mit einem Privileg des Fürsten oder gar Königs versehen sein musste. Alles, was man zu Goethes Zeiten schwarz-weiß nach Hause tragen konnte, war der Zensur unterworfen. 

Der Buchdruck hatte die Sprache von einem Mittel der Wahrnehmung zu einer tragbaren Ware verändert. Anfang des 19. Jahrhunderts begann mit der industriellen Revolution auch die Mechanisierung des Druckens. 1814, also achtzehn Jahre vor Goethes Tod, wurde von den beiden deutschen Mechanikern König und Bauer in London die erste Rotationsdruckmaschine bei der Times aufgestellt. Mit ihr ließen sich über Nacht genügend Zeitungen drucken um ganz London zu versorgen. Noch jedoch wurde jeder Buch­stabe, jede Zeile von Hand gesetzt und zu Seiten zusammengefügt. Vor der Konstruktion der Linotype Setzmaschine durch den Ottmar Mergenthaler im Jahre 1886 gab es keine wirtschaftliche Lösung zur Beschleunigung der Satzherstellung. Auch die Herstellung von Satzschriften aus Blei wurde nun mechanisch beschleunigt. Schrift­gießereien stellten die Schriften her für den wachsenden Markt an Druckerzeugnissen.

Die allgemeine Schulpflicht hatte bereits dafür gesorgt, dass in Deutschland jedes Kind lesen und schreiben konnte. Wie bei den Mönchen in Mainz gab es auch hier (und gibt es heute noch) einen großen Unterschied zwischen geschriebenen und gedruckten Schriften. Ludwig Sütterlin, ein deutscher Grafiker und Buchgestalter, hatte 1911 im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums die erste deutsche Einheitsschrift für den Schulunterricht entwickelt, die sich nicht an Druck­schriften, sondern an Hand­schriften orientierte, wie sie in Kanzleien und Schreibstuben geschrieben wurden. 

Gedruckte Texte wurden in Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg in zwei verschiedenen Schriften gesetzt. Alle deutschsprachigen aus Fraktur, alle nichtdeutschen aus Antiqua. Die dunkle, strenge gotische Schrift hatte sich auf ihrem Weg von Mainz über Straßburg, Augs­burg und Nürnberg nach Venedig mit den flüssigeren Handschriften gemischt, die aus der römischen Capitalis entstanden waren. Noch heute berufen sich unsere Druckschriften auf die Formen, die sich Ende des 16. Jahrhunderts bei den italieni­schen Druckern gefestigt hatten und dort zur Blüte gebracht wurden. Auf englisch werden die kursiven Schnitte einer Druckschrift immer noch als Italics bezeichnet.

Mit der mechanischen Satz­herstellung entstand auch der Beruf des Schriftkünstlers, der für die Umsetzung seiner Entwürfe auf Graveure, Stempel­schneider und andere Spezialisten in den Schrift­gießereien angewiesen war. Sie fertigten nicht nur die nötigen Schriften für den Buch- und Zeitungs­markt, sondern bedienten zunehmend den typografischen Zeitgeist. Das ausgehende 19. Jahrhundert sah eine Explosion von neuen Schrift­typen, denen man sehr deutlich ihre Entstehungsepoche ansah. Die Werbung hatte schnell begriffen, dass unterschiedliche Schriften sehr geeignet waren als Ausdruck und zur Unterscheidung von Marken und Produkten. 

Unter den Schriftgießereien weltweit gab es Anfang des 20. Jahrhundert einen ausgeprägtem Wettbewerb, der sich in umfangreichen, aufwendig gestalteten und gedruckten Katalogen äußerte, neben denen eine gewöhnliche Bibel verblasste.

Bis in die 1960er waren Satz- beziehungsweise Druck­schriften an einen mechanischen Träger gebunden – ob aus Metall oder als Filmnegativ. Und immer musste die Schrift von einem physischen Träger mit Farbe aufs Papier gebracht werden, ganz wie die Handschrift. Erst die Digitalisierung machte die Schrift körperlos. Ein Buchstabe ist heute die mathe­ma­tische Beschreibung einer Kontur, deren Parameter sich durch einfache Befehle ändern lassen. Größer – kleiner, schmaler – breiter, leichter – fetter. Im Rechner entstehen die Formen, die als für uns unsichtbare Pixel auf den Bildschirm, die Drucker­­trommel oder irgendein anderes Substrat geschickt werden. 

Um eine Schrift zu entwerfen, braucht man nur einen Computer, ein Programm und im besten Fall etwas Übung. Weltweit gibt es heute etliche tausend Schrift­­ent­werfer und ‑innen, die oft ihre Entwürfe selbst verbreiten und diesen Vertriebsweg auf englisch noch immer Typefoundry, also Schrift­gießerei nennen. Das Entwerfen von Schriften ist damit demokratisiert, wie auch das Herstellen von Videos, Ton­aufnahmen und anderen medialen Ausdrucks­formen. Jeder Mensch kann sich nun auch typografisch darstellen. Die eigene Handschrift kann man gegen geringe Gebühr digitalisieren lassen. Was vor vielen tausend Jahren am Euphrat in Tontafeln geritzt wurde, sind heute TikTok Videos. 

Tröstlich oder nicht, aber trotz aller Bilderflut wird mehr geschrieben als je zuvor. Ob alles Geschriebene auch gelesen wird, sei dahingestellt. ★

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus:
Updating Roland Barthes’ Mythologies (edited by Hans Leo Höger), Verlag bu,press
(Bozen / Bolzano University Press)
https://bupress.unibz.it/en/­kategorie/fachbereiche/­design-und-kuenste/ – erscheint im Herbst 2024